Sex Education – Frühlings Erwachen zwischen Röhrenfernseher und Cybermobbing (REPOST)
Da ja seit kurzem die zweite Staffel von Sex Education auf Netflix ist und ich im verlorenen Logbuch Blog eine Rezension geschrieben hatte, die nicht verloren sein soll hier nun ein Repost.
„Sex Education“, die kürzlich auf Netflix veröffentlichte erste Staffel der britischen Serie, hat aus absehbaren Gründen schon einige Reviews bekommen.
Der Plot ist schnell erklärt: der verklemmte 16-jährige Otis (Asa Butterfield) hadert mit seiner Jungfräulichkeit und seiner traumabedingten Unfähigkeit zur Masturbation, während ihn seine Mutter Jean (Gillian Anderson), ihres Zeichens Sexualtherapeutin mit ihrer ständigen Übergriffigkeit und Psychoanalysen auf die Nerven geht. Da Otis aber seit frühester Kindheit das mütterliche Fachwissen absorbiert hat, kommt er durch Zufall dazu mit dem Schulbully Adam in einer improvisierten Sitzung über dessen sexuellen Sorgen zu sprechen und ihm so auch noch eine Viagra-induzierte Dauererektion weg zu therapieren. Otis und seine Schulkollegin Maeve entdecken darin die Möglichkeit eines regelmäßigen Taschengeldes, wenn sie beginnen die Paar- und Sexprobleme ihrer Mitschüler zu lösen.
Das ist alles anfangs entsprechend einer Teeniekomödie sehr klischeeartig erzählt, aber im Laufe der Handlung bekommen die Haupt- und Nebencharaktere ausreichend Tiefe und Komplexität, dass man sich für sie interessiert. Des Weiteren ist die Serie auch einfach amüsant und gut gespielt und bildet in ihren Charakteren den zeitgenössischen Stand der heutigen Lebensentwürfe ab; seien es die lesbischen Eltern des Sport-As, der schwule beste Freund oder einfach auch genderfluide Spielereien. Ebenso geht sie auf die Sorgen und Nöte der Heranwachsenden ein, wie man es von einer Serie im Jahr 2019 mindestens erwarten kann. Erpressung mit Fotos, die beim Sexting verschickt wurden, feministische Eigenermächtigung, sowie die Wichtigkeit einer offenen Kommunikation in einer Partnerschaft sind Themen die unter anderem verhandelt werden. Das ganze bei Weitem nicht so offensiv und schockierend, wie es die Promo teils weismachen will, aber auf einem guten Level der Aufgeklärtheit.
Nur – und das ist, warum ich überhaupt darüber schreiben wollte – ist diese Serie mal wieder ein typisches Netflix-Produkt, wie ich es auch schon bei „Stranger Things“ angemerkt hatte. Auch „Sex Education“ bedient eine Nostalgie, die in diesem Fall aber sehr irritierend daher kommt.
Die anfänglichen zwanzig Minuten der ersten Folge musste ich mich erstmal zu Recht finden, wann die Handlung stattfindet. Als zum ersten Mal ein Smartphone zu sehen war, war klar, das es irgendwie heute sein könnte. Doch die gesamte visuelle Gestaltung von Set-, Kostüm- und Requisitendesign spricht eine widersprüchliche Sprache. Kein Auto, dass man zu sehen bekommt wurde nach ca. 1985 zugelassen und Röhrenbildschirme stehen ganz unironisch in Jugend- und Wartezimmern rum. Das Haus von Otis und seiner Therapeutenmutter ist ein braun-oranger Traum aus den 80ern, der geradezu ‚Makramee-Eule!‘ schreit. Dagegen stehen dann im harten Kontrast die besagten Smartphones, Laptops und Flachbildschirme, die in diesem Setting wie aus der (oder in die) Zeit gefallene Fremdkörper wirken. Ebenso ist die Kleidung der Protagonisten durchgehend eine Fusion der heutigen Mode mit allen Einflüssen der letzten vierzig Jahre.
Hinzu kommt dann noch die geographische Verortung der Serie, was auch eine Herausforderung ist, denn auch hier ist nichts eindeutig. Gedreht in Wales in einem unnatürlich gelben Hochsommerlicht gehüllt, als befände man sich an der Riviera, spielt die Serie hauptsächlich in einer Schule, die ebenfalls alles andere als britisch ist und eher ein typisches Replikat amerikanischer High Schools darstellt, mit Spinden in den Korridoren und dem unvermeidlichen Schülerball, als wäre sie durch ein Dimensionsloch aus dem John-Hughes-Universum gefallen.
Selbst in der mehr oder weniger subtilen Post-Production hat man es sich nicht nehmen lassen das Bildmaterial mit einer leichten videoartigen rot-grün-Verschiebung zu versehen, wie man sie schon aus der „Kung Fury“-Klamotte kennt, um noch einmal den Nostalgiefaktor zu zementieren.
Es ist eine bemerkenswerte Leistung derjenigen, die diese visuelle Konzeption erdacht und ausgeführt haben. Noch nie bekam man außerhalb des Alternate-Reality-Genres einen solchen Stilmix zu sehen, der die Serie ihres Realismus enthebt und sie in ein Setting setzt, welches eine Parallelrealität darstellt, in der der Zeitstrom von 1980 bis heute zu einer nostalgisch-utopischen Gegenwart amalgamiert.
Jedoch muss man sich fragen, wozu?
Nimmt man die Drehbücher von Laurie Nunn hätte man sie ohne Probleme einfach im Hier und Jetzt in den USA oder Großbritannien ansiedeln können. Das visuelle Design, dass um die Handlung gestrickt wurde ist im Grunde nur dekoratives Beiwerk, dass der Handlung keinen Mehrwert gibt. Die Verquickung der eher realitätsbezogenen Handlung mit einem fantastischen Notopia würde jedem Dogma 95-Regisseur die Fußnägel hochkrempeln und ihn in Flammen aufgehen lassen.
Der Grund für diesen ganz Netflix-eigenen Stil ist zum großen Teil mal wieder in der Zielgruppenoptimierung zu suchen. Hat man sich bei „Stranger Things“ noch darauf festgelegt die 80er Jahre im Spielbergschen Sinne 1:1 zu kopieren, um die Zielgruppe, männlich +/- 40 Jahre alt direkt anzusprechen geht man hier einen wesentlich komplexeren Weg. Hier finden sich alle wieder; die Fans von „Ferris macht blau“, über „Malcolm mittendrin“ bis „Glee“. Das ganze untermalt mit einem Soundtrack von 70s Soul über Billy Idol und A-ha bis hin zu Beth Ditto etc. Jeder kann hier das finden, was er an einer Unterhaltungsserie mag. Aufgrund der internationalen Nonlokalität des Settings ist die Serie sowohl für Amerikaner wie Briten goutierbar und das ist genau so gewollt.
Netflix legt sich hier mit der BBC als großen britischen Produzenten von qualitativ hochwertigen und beliebten Serien an und will das englische Publikum für sich gewinnen und gleichzeitig das amerikanische nicht mit zuviel ‚fremder‘ Kultur behelligen. In einem aufschlussreichen Interview von RadioTimes sagte Gillian Anderson zu diesem Mash-up:
In der Serie gibt es beide Welten, und das Ziel und die Hoffnung ist, dass die Amerikaner es nicht bemerken werden (!).
Die Briten bemerken beispielsweise, dass sie amerikanische Fußbälle werfen, während die Amerikaner nicht bemerken werden, dass dies für Leute, die mit britischen Akzenten sprechen, seltsam sein kann.
Die Regeln ändern sich ständig in Bezug auf die Art und Weise, wie ein Publikum die Shows annimmt, die es sieht, was sie akzeptieren wollen und für welche Welten sie bereit sind, das fiktive Szenario als wahr anzunehmen.
Ich glaube, Netflix hat das Gefühl, dass sie mit dieser Verschmelzung etwas erreicht haben.
Oder wie es der Regisseur Ben Taylor flach und simpel ausdrückte:
We wanted to make a show with lockers from The Breakfast Club in it.
Was Netflix auf jeden Fall schafft, ist unsere Sehgewohnheiten zu verändern und zu lenken. Ebenso vermutet die Daily Mail, die Show könnte ein Versuch des US-amerikanischen Streaming-Riesen sein, den Erfolg mit „The Crown“ zu wiederholen, eine klassische BBC-Formel für ein weltweites Publikum neu zu erfinden. Dieses neue Genre der algorithmisch optimierten Serien, welches gerade im Entstehen begriffen ist kommt daher nicht nur gut an und viele Menschen haben auf Twitter ihre Verwirrung und Unmut geäußert.
Vielleicht ist dieses Konzept der Entrückung aus der Realität bei einem eigentlich banalen Plot aber auch ein Zeichen unserer Zeit, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war und die Zukunft weit mehr als früher ein unbeschriebenes Blatt. Es sind Zeiten der Unsicherheit, in denen wehmütig zurück geschaut wird und nur wenige Mutige nach vorne schauen. Nur sind diese mutigen Menschen auch oft nicht bei einem kommerziellen Unterhaltungservice angestellt, der uns lieber mit Nostalgie anstatt mit Visionen versorgt, sondern bauen Raketen, die uns zum Mars bringen werden. Unsere derzeitige Realität ist so düster, dass die Zuschauer eventuell gewillt sind jede Alternative zu akzeptieren und wenn sie nur ein für den Anbieter risikoloser Remix des Alten sind, der sich in den Excel-Tabellen der Buchhaltung rechnen. Ein legitimes Verlangen, welches ich, gerade als Star Trek Fan, gut verstehen kann, aber der Schritt die Realität nur um des Effektes Willen aus einer Serie auszuhebeln, zu Gunsten der Massenkompatibilität, lässt mich doch mit etwas Befremden zurück.